Wieso kann es für eine Liebeserklärung zu früh sein?
«Wieso kann es für eine Liebeserklärung zu früh sein?»
Wenn ich mir vorstelle, da ist eine Frau, mit der ich mich ein paarmal getroffen habe. Sie ist sympathisch, schön anzuschauen, und ich fühle mich in ihrer Gesellschaft wohl. Das ist mir aber so explizit nie aufgefallen, denn ich bin gerade überhaupt nicht auf der Suche nach einer Beziehung, und daher habe ich nie darüber nachgedacht, ob gerade bei ihr mehr sein könnte. Und sie benimmt sich auch nicht so, dass ich das Gefühl kriegen müsste, sie würde besonders an mir interessiert sein. Nach einer Woche beim dritten Treffen sagt sie zu mir: "Du, ich liebe dich -- du mich auch?" -- Diese Frage stünde wie eine Wand zwischen uns.(*) All die feinen Nuancen, über die man sich Gedanken machen könnte, ob ich beispielsweise ihre Ohren hübsch finde oder wie sich ihr Atem an meinen Nackenhaaren anfühlen könnte... ob ich mir wohl einen Urlaub mit ihr vorstellen könnte oder einen gemeinsamen Bummel durchs Möbelhaus -- alle diese Details würden verschwinden, und stattdessen finde ich mich vor einer einzigen, vergleichsweise plumpen Frage wieder. Liebe ich sie? -- Woher soll ich das wissen? Im günstigsten Fall sage ich: das weiß ich nicht. Aber wahrscheinlicher ist es, dass ich mich verschreckt fühle und unter Druck gesetzt fühle.
Ich glaube, so eine Liebeserklärung zu einem (zu) frühen Zeitpunkt entspringt oft dem Unvermögen, differenzierter zum Ausdruck zu bringen, was man denkt, wünscht und empfindet. Diese Wünsche häufen und türmen sich an und erzeugen ein Gefühl, das man für Liebe hält. Anstatt sie also beim ersten Treffen zum Abschied in den Arm zu nehmen und ihr zu sagen, was für eine unglaubliche Farbe ihre Augen haben, sie beim zweiten Treffen zu fragen, ob man nicht mal einen ganzen Tag zusammen verbringen möchte und beim dritten Treffen auszuprobieren, wie sich wohl ein sanfter Kuss auf ihren Hals anfühlt, schluckt man all das herunter und fasst es beim vierten Treffen zu einem "ich liebe dich!" zusammen. Was man alles verpasst!
Mal abgesehen davon, dass es zu dem Zeitpunkt wohl mehr um Verliebtsein geht als um Liebe, muss man ihr doch Gelegenheit zum Verlieben geben. Worein verliebt man sich denn bei jemandem? Seltener in die Person in ihrer Gesamtheit, die kennt man ja noch gar nicht so genau. Eher in Details: in den Klang seiner Stimme, in einen bestimmten Blick oder Gesichtsausdruck, in die Berührungen seiner Fingerspitzen, in sein Feingefühl, sie zu trösten, in seine handwerklichen Fähigkeiten vielleicht oder seine Kochkunst. Vielleicht in seinen Humor, seine dezent verruchten Liebesgedichte, sein Klavierspiel bei Kerzenschein, seine Romantik oder seine heißen Küsse... Ich könnte die Liste beliebig weiterführen. Zumindest das eine oder andere davon sollte sie dann vielleicht schonmal kennengelernt haben, bevor man ihr seine Liebe erklärt, finde ich.
So, jetzt höre ich auf, sonst gerate ich richtig ins Schwelgen.
Liebe Grüße, Martin (ein kleinwenig verliebt gerade)
(*) Auch wenn die Frage nicht explizit gestellt wird, ist sie in so einer Liebeserklärung immer irgendwie enthalten.
Martin Gebhardt · Gepostet am 2. Februar 2004