Sex, Romanzen und Beziehungen als Sucht?
Inhalt:
- Sexsucht
- Romanzensucht
- Beziehungssucht
- Co-Abhängikeit und Suchtprozess
- Suchtbeziehungen
- Nähe und gesunde Beziehungen
- Genesung
- Andere Gesellschaft?
- Das innere Kind
- Professionelle Hilfe
- Literatur
- Weblinks
Bei “Süchten” denkt man zunächst an stoffliche Süchte wie Alkohol und Drogen, meinetwegen auch noch an nichtstoffliche (prozessgebundene) Süchte wie Arbeits-, Spiel- und Internetsucht ;-)
Beziehungen und das Drumrum bringt man dagegen eher selten mit Sucht in Verbindung. Dass auch Sex, Romanzen und Beziehungen (aber sogar auch Nichtsex, Nichtromanzen und Nichtbeziehungen!) Sucht sein können, darüber stolperte ich kürzlich in einer Phase intensiver Beschäftigung mit psychologischen Themen, bei der ich auf das Buch von Anne Wilson Schaef stieß, das diese Themen ausführlich behandelt, sowie auf einige andere Bücher.
Da es auch um das Hauptthemengebiet von de.talk.romance geht und dieses Buch dort bisher offenbar noch nicht aufgetaucht war, möchte ich diese Bücher hier ausführlicher besprechen – teils auch mit “wörtlichen Zitaten” – und zum weiteren Selbststudium empfehlen. Einige Aspekte, die ich wichtig finde, um selbst zu erkennen, ob man betroffen ist, stelle ich ausführlicher dar, andere Aspekte streife ich nur, wie bspw. die im Buch ausführlich dargesellten Verflechtungen zu unserer Gesellschaft, weil das erst bei größerem Interesse an der Materie interessant wird. Der Buchhandel will ja auch noch verdienen... :-)
In anderer Literatur werden Sex-, Romanzen- und Beziehungssucht sowie Co-Abhängigkeit oft zusammengefasst oder vermischt. Anne Wilson Schaef trennt diese Süchte zunächst sauber voneinander, da nur die getrennte Betrachtung der drei Süchte Klarheit bringt, welches Problem man genau hat und wie man es daraus resultierend angehen kann. Die Süchte sowohl einzeln, als auch gemeinsam zu betrachten ist laut der Autorin wichtig. Aber auch der zugrundeliegende allgemeine Suchtprozess ist wichtig, da sonst womöglich nur die eine alte Sucht durch eine andere neue Sucht ersetzt wird.
Suche nach oder Flucht vor Nähe?
Wer eine der Süchte (oder Kombinationen miteinander oder mit Co-Abhängigkeit) hat, lebt in ungesunden Pseudo-Beziehungen. Es sieht dann zwar so aus, als suche man die Nähe besonders intensiv, aber eigentlich ist es das genaue Gegenteil: Flucht vor der Nähe! Wirkliche Nähe finde man nur in einer gesunden suchtfreien Beziehung. In der Pseudo-Beziehung eines Süchtigen ist die Beziehung der “Kampfplatz” für die Süchte, die Beziehung zur anderen Person wird für die Sucht missbraucht, um den Kick/Rausch zu bekommen.
Jede der Süchte wird auch im gesellschaftlichen Zusammenhang betrachtet, da sie mehr oder weniger stark zumindestens teilweise bestens in unser Gesellschaftssystem integriert sind und von ihr gefördert werden (bspw. Religion, Filme, Musik und Werbung).
Sexsucht
Bei dieser steht naheliegenderweise die Besessenheit von Sex im Mittelpunkt.
Alles im Alltag wird mit Sex in Verbindung gebracht. Die Besessenheit erlangt
die Kontrolle über das Leben.
“Sexsucht verändert – wie jede andere Sucht –
die persönliche Befindlichkeit. Sie wirkt sich – wie jede
stimmungsverändernde Droge – auf den Menschen aus.
Sexuelle Besessenheit wird zum ‘Fix’ – und wer abhängig ist,
holt sich seinen ‘Kick’ mit Hilfe dieses sexuellen
‘Fix’”
Verfall der Wertevorstellungen, Realitätsverlust, gestörte Denkprozesse, ...
gehören – wie auch bei anderen Süchten – zu dieser Sucht
im fortgeschrittenen Stadium.
Die Sexsucht kann in verschiedenen Abstufungen auftreten. Im Mittelpunkt des Interesses stehen die beiden letzten, aber jede von ihnen kann bereits süchtig sein.
-
Repressive Sexsucht:
Von der eigenen unterdrückten Sexsucht (oder der anderer) besessen, sich sozusagen süchtig mit der Abwehr von Sexualität beschäftigen (“sexuelle Magersucht”, sexuell-moralische Überheblichkeit, ...) -
Passive Sexsucht:
zwanghafte sexuelle Phantasien (Flucht in Phantasien, Angst Phantasien auszuleben: Sexsucht bedarf nicht unbedingt Person oder Objekt), passive Pornographie (voyeuristisch, privat), Voyeurismus, ... -
Aktiv ausgelebte Sexsucht:
Masturbation als “Kick” überall und immer, Exhibitionismus, Prostitution, aktive Pornographie, “sexuelle Freiheit des New Age”, Telefonate mit sexuellem Inhalt, unzüchtige Berührungen, ... -
Gewalttätige Sexsucht:
Notzucht, Inzest, Kindesmissbrauch, sadomasochistischer Sex, ...
Romanzensucht
“Romanzensüchtige sind in ihre Vorstellungen von Romantik
verliebt. Die andere Person interessiert sie eigentlich gar nicht.
Romanzensüchtige sind Experten auf dem Gebiet der Illusion.” ...
Sie signalisieren ihre Bereitschaft für eine Beziehung oder für Sex,
wollen im Grunde genommen jedoch beides nicht. Vielmehr suchen sie
den ‘Kitzel’, das ‘Risiko’, das in einer neuen
Romanze oder einem romantischen Erlebnis liegt. Kerzenlicht, Blumen,
sentimentale Schauplätze, verträumte Orte – das ist der Stoff,
aus dem die Romanzensucht besteht. Solche Menschen beschäftigen sich
viel mehr mit dem Drumherum als mit der anderen Person.”
Die äußere Form ist es, nicht der Inhalt. Ein verdrehtes Bild der Realität.
Von einer Beziehung wird erwartet, dass sie wie ein Märchen sein muss.
Aber die Sucht kann neben Beziehungen auch Ereignisse allgemein betreffen.
Auch hier gibt es verschiedene Abstufungen:
-
Nur Phantasie:
Romanzensüchtige leben hier in ihrer Phantasie (mit Liebesromanen und Schnulzen), leben diese aber nicht aus. Zur Sucht wird es, wenn sich die Phantasiewelt zerstörerisch auf das normale Leben auswirkt, sie also allen Raum einnimmt. -
Phantasie ausleben:
Die Romanzensüchtigen stürzen sich entweder von einer Romanze in die nächste (sobald die Romantik verflogen ist...), jede Begegnung wird romantisiert, oder sie versuchen, ihre reale Beziehung und Umgebung in ihre romantische Phantasiewelt zu pressen, unabhängig, ob die Personen da rein passen oder nicht... -
Phantasie ausleben:
Die Romanzensüchtigen stürzen sich entweder von einer Romanze in die nächste (sobald die Romantik verflogen ist...), jede Begegnung wird romantisiert, oder sie versuchen, ihre reale Beziehung und Umgebung in ihre romantische Phantasiewelt zu pressen, unabhängig, ob die Personen da rein passen oder nicht... -
Zerstörerisches ausleben:
Der “Kick” muss intensiver werden. Die Romanzensucht wird ohne Rücksicht auf Familie oder das eigene Leben ausgelebt.
Beziehungssucht
Hier werden zwei Haupttypen unterschieden:
I: Nach Beziehungen selbst süchtig sein zu irgendeinem
Menschen (auf die Idee fixiert)
II: Nach einer Beziehung zu einer bestimmtem Person süchtig
sein (auf die Person fixiert)
“Die stimmungsverändernde Droge ist für sie die Phantasie oder
oder der Glaube, sie hätten eine Beziehung.”
Die Beziehung beherrscht das ganze Denken (Besessenheit),
der Aufbau von Beziehungen und was damit zusammenhängt (Diät, ...)
wird ritualisiert, Beziehungen werden schnellstmöglichst
festgelegt (Heirat, ...) oder man hält an Beziehungen zwanghaft fest.
Beim Typ I wird eine Beziehung eingegangen, ohne Prüfung, ob man zusammen
passt, Hauptsache Beziehung.
Typen II neigen zur Selbstaufgabe (aller Werte etc.).
Sie sind oft Experten im Beziehungsaufbau (Literatur dazu verschlungen:
zuhören, Gefühle teilen, Aufmerksamkeit schenken, ... aber alles
nur oberflächlich). Sie haben einen Horror vorm Alleinsein und
einen selektiven Gedächtnisschwund, was negative Beziehungserfahrungen
betrifft.
Kontrollbedürfnis, Manipulation und Eifersucht sind weitere Merkmale.
Auch hier gibt es verschiedene Abstufungen:
-
“Magersucht”:
Sie haben das Gefühl, sie sollten eine Beziehung haben, haben aber eine tiefliegende Angst davor und tun alles zur Vermeidung. -
Phantasiebeziehungen:
Sie leben in der Phantasie, eine Beziehung zu haben, Hälfte eines Paares zu sein. Falls es jemand ist, den der/die Süchtige kennt, muss der/diejenige davon nicht unbedingt was wissen... -
“Normale” Beziehungssucht:
(Normal, weil oft in der Literatur behandelt.) Angst vorm Alleinsein. Sie leben in einer Beziehung, haben beim Typ I oft einen nahtlosen Wechsel von einer Beziehung zur nächsten. Oder halten an einer Beziehung fest, auch wenn sie schon längst nicht mehr richtig funktioniert oder nur noch destruktiv ist. -
“Tödliche” Beziehungssucht:
Verharren in einer Beziehung oder Aufnehmen einer neuen trotz körperlicher Gefahren in dieser Beziehung. Oder Selbstmordtendenzen oder Tendenzen zu psychisch ausgelösten schweren Krankheiten. ...
Die Integration der Süchte in die Gesellschaft wird bei der Beziehungssucht bei einem interessanten Aspekt genauer beleuchtet. Die ganzen Verhaltensmuster werden offenbar in der Jugend bestens geübt in “Beste/r-Freund/in-Beziehungen”, die nach sehr ähnlichen Mustern ablaufen wie spätere Beziehungssucht. Für den Aufbau von gesunden Beziehungen gibt es dagegen praktisch keine Vorbilder.
Zur Beziehungssucht kann auch das Klammern an Erinnerungen von vergangenen Beziehungen gehören.
Co-Abhängigkeit und Suchtprozess
Das Thema Co-Abhängigkeit wird oft mit den drei obigen Süchten oder
anderen vermischt.
“Bei einigen Definitionen con Co-Abhängigkeit stehen die Helferrolle
und das Kontrollverhalten im Mittelpunkt, und es wird davon ausgegangen,
es handle sich um eine Beziehungen betreffende Krankheit oder zumindestens
um eine solche, die in Beziehungen ausgetragen wird. Zudem herrscht
mittlerweile die Ansicht vor, dass Co-Abhängigkeit jeder Sucht zugrunde
liegt. ...
Schon seit einiger Zeit vertrete ich die Ansicht, dass Co-Abhängigkeit nicht
nur eine auf Beziehungen beschränkte Krankheit ist und ein
Co-Abhängiger nicht unbedingt einen Menschen braucht, an dem er seine
Krankheit auslebt. Ein Co-Abhängiger kann genausogut von einem Zaunpfahl
co-abhängig sein.”
(Anm.:Ich kann auch einige “Zaunpfähle” benennen... ;-) )
Zur weiteren Behandlung des Themas Co-Abhängigkeit springe ich mal zunächst in ein weiteres Buch von Anne Wilson Schaef speziell zu diesem Thema (überspringen). Der Begriff Co-Abhängigkeit entstand aus dem Kreise der Betroffenen selbst heraus und bezog sich zunächst auf Angehörige von Alkoholikern u.ä. und bezeichnete deren Verhalten als Förderer bzw. Helfer des Alkoholikers. Je mehr man sich bei der Behandlung des Alkoholikers auch dessen Umfeld zuwandte bei der Behandlung, umso klarer wurde, dass die Co-Abhängigkeit ein eigenständiges Problem ist, unabhängig von Suchtproblemen anderer. Ein vermutlich sehr umfassendes Problem, einigen Schätzungen nach sind rund 96% der Bevölkerung davon mehr oder weniger stark betroffen.
“Es ist mir wichtig, nochmals zu betonen, dass das, was wir
Co-Abhängigkeit nennen wirklich eine Krankheit ist, die in
vielerlei Formen auftritt und die aus einem Krankheitsprozess
hervorgeht, der eng mit unserem Gesellschaftsprozess verbunden ist.
Ich nenne diese Krankheit den Suchtprozess.
Dieser Suchtprozess ist eine schwere und widernatürliche Erkrankung,
und die damit verbundenen Einstellungen, Überzeugungen, Verhaltensweisen
sowie ihr Mangel an Spiritualität verneinen das Leben und führen
unausweichlich zum Tod. Für diese Primärerkrankung, deren
Symptome u.a. Co-Abhängigkeit und Alkoholismus sind, ist unsere Gesellschaft
– offen oder verdeckt – ein idealer Nährboden. ...
Es ist meine feste Überzeugung, dass viele Krankheiten sowie psychische
Leiden und Verhaltensstörungen letzlich Erscheinungsformen
des Suchtprozesses sind.”
Wie die Sekundärkrankheiten aus der Primärkrankheit hervorgehen
und wie sie aus verschiedenen Blickwinkeln heraus benannt werden,
hat sie tabellarisch zusammengestellt:
- Sucht- und Drogentherapie:
- Alkoholismus, Drogenabhängigkeit, Essstörungen, Sexsucht, Spielsucht, Co-Abhängigkeit, ...
- Psychosozialer Bereich:
- Charakterstörungen, bestimmte Psychosen (manisch-depressiv etc.), Narzissmus, Zwangsneurose, abhängige Persönlichkeit, Depression, Phobien, ...
- Frauenbewegung:
- “nicht befreite” Frau, “nicht befreiter” Mann
- Familientherapie:
- gestörte Familie, Suchtfamilie
Viele Namen, viele Ausprägungen, aber im Grunde die gleiche Grundlage, wie im Buch genauer beschrieben wird.
“In der Sucht- und Drogenberatung gilt gemeinhin jene Person als
süchtig, die ein zwanghaftes Bedürfnis nach einer Substanz oder einem
Ereignis außerhalb ihrer Selbst hat, die wichtiger werden als die eigene
innere Klarheit. In dieser Klarheit sein, heißt so zu leben,
wie es gesund ist für Leib und Seele. ...
Bei der Drogentherapie ist schon seit langem bekannt, dass das Aufgeben
des Suchtmittels immer erst die Spitze des Eisbergs ist. Nach dem Entzug
der offensichtlich tödlichen Droge greifen Abhängige fast immer ähnlich
süchtig zu anderen Drogen – meist zu solchen, die nicht gar
so tödlich sind, wie Nikotin, Koffein, Zucker.
Dieses Verhalten unterstützt meine These, dass wir es hier nicht nur
mit der Behandlung einer bestimmten Sucht oder Abhängigkeit zu tun haben,
sondern dass wir es hier mit einem Suchtprozess zu tun haben, der
Verursacher vieler Süchte und Abhängigkeiten sein kann. ...
Die Erkenntnis, dass hinter dem Alkoholismus ein Suchtprozess lauert,
würde auch erklären, weshalb die Anonymen Alkoholiker mit ihrem
Zwölf-Schritte-Programm so erfolgreich sind, ...”
denn ihre Arbeit endet nicht mit der Abstinenz, sondern geht weiter
mit der Änderung der Lebenseinstellung, bei der man zu seiner Klarheit
zurückfindet. Man verlässt das Suchtsystem, man hat quasi die Grundlage,
alle Süchte anzugehen, in die man sich sonst noch flüchten könnte oder
in der man vorher schon steckte (Co-Abhängigkeit bspw., da von dieser
fast alle in unserer Gesellschaft betroffen sind), sobald man die volle
Bandbreite seines Suchtverhaltens kennt.
Co-Abhängigkeit ist also eine eigene Krankheit und entgegen der ersten Definitionen keine “Opferrolle”, in die man nur durch den Süchtigen gedrängt wurde. Man hat als ebenfalls Süchtiger aktiv daran mitgewirkt. Was nicht besonders wundert, da unser Gesellschaftssystem die Co-Abhängigkeit fördert, so dass fast alle co-abhängig sind. Da so viele davon betroffen sind, vor allem auch helfende Berufe, darunter natürlich auch Psychologen etc., wird Co-Abhängigkeit oft aber nicht als eigenständige Krankheit erkannt und somit auch nicht Zusammenhänge mit anderen psychischen Problemen.
Was sind nun Merkmale der Co-Abhängigkeit? Anne Wilson Schaef listet zunächst (nicht unbeding vollständig, aber repräsentativ) die Merkmale des allgemeinen Suchtprozesses auf:
- Unehrlichkeit (Verleugnung, Projektion, Wahn)
- gestörtes Gefühlsleben (Gefühlsstarre, verzerrte Gefühle, ...)
- Kontrollverhalten
- Verwirrung
- gestörte Denkstrukturen (verwirrtes, verzerrtes, zwanghaftes Denken incl. “verstehen wollen”, Überbewertung des analytischen Denkens, Entweder/Oder)
- Perfektionismus
- Außenorientierung (Fremdbestimmtsein, geringes Selbstwertgefühl, Eindruck-Schinden, Unterwürfigkeit)
- Abhängigkeitsprobleme
- Angst
- Rigidität
- moralisierendes Verhalten
- Depression
- Unter-/Überlegenheitsgefühl
- Selbstbezogenheit
- Verlust der inneren Moral, verunsicherte Wertvorstellungen, Verlust der eigenen Spiritualität
- Gefühlsstau
- Negativismus
Nicht jedes Symptom äußert sich dabei in allen möglichen Sekundärkrankheiten des Suchtprozesses, aber jede weist ein ganzes Bündel davon auf. Jede Einzelkrankheit ist eine bestimmte Ausprägung der Grundkrankheit. Man muss sie sowohl als Teil der Grundkrankheit erkennen und behandeln, als auch als eigenständige Krankheit.
Danach kommt sie zu den Wesensmerkmalen der Co-Abhängigkeit:
- 1. Außenorientierung
- Ihr Verhältnis zur Umwelt und ihre Art sich zu sehen ist das hervorstechendste Merkmal der Co-Abhängigen:
- Co-Abhängige sind beziehungssüchtig. Sie finden sich selbst nicht wichtig, sondern suchen Bestätigung bei anderen: Fremdbestimmung, geringes Selbstwertgefühl, ohne eine Beziehung als Nichts fühlen, sich selbst aufgeben. Oft Klammerbeziehungen mit gegenseitiger Abhängigkeit.
- Co-Abhängige können sich nicht abgrenzen.
Man übernimmt die Gefühle und Gedanken von anderen.
“Familie, Kirche und Schule” richten uns ganz bewusst dazu ab, “unsere Grenzen nicht wahrzunehmen. Man lehrt uns zu denken, was wir denken sollen, zu fühlen, was wir fühlen sollen, zu sehen, was wir sehen sollen, und zu wissen, was wir wissen sollen, Das ist gutes altes Co-Abhängigkeits-Training. Wir lernen, dass der Bezugspunkt für unser Denken, Fühlen, Sehen und Wissen außerhalb unseres Selbst liegt – und eben so erzieht man Menschen ohne Abgrenzung. Um sich abgrenzen zu können, muss der Mensch zunächst eine Beziehung zu sich selbst herstellen (nämlich wissen, was er innerlich fühlt und denkt), und erst dann kann er eine klare Beziehung zu seiner Umwelt haben.”
In Alkoholikerfamilien dreht sich so beispielsweise das ganze Familienleben mangels Abgrenzungen um den Alkoholiker. - “Da der Co-Abhängige nicht wirklich zu sich selber steht, ist für ihn unbedingt wichtig, dass andere ihn so sehen, wie er gesehen werden möchte.” Dazu dienen Täuschungsmanöver (die sowohl zum Punkt Außenorientierung, wie zum Kontrollverhalten gehören). “Was denken die anderen von mir?” Sie haben sozusagen keine eigene Persönlichkeit, sondern versuchen nur das zu machen, wovon sie denken, dass die anderen genau dieses erwarten. Co-Abhängige haben stets das Bedürfnis nach Bestätigung von außen und einen guten Eindruck zu machen.
- Co-Abhängige habe kein Vertrauen in die eigenen Wahrnehmungen und Gefühle. Sie müssen erst von außen bestätigt werden.
- 2. Übertriebene Fürsorge
- Co-Abhängige helfen gerne. Das hat zum einen mit dem niedrigen Selbstwertgefühl und den Wunsch nach Bestätigung, zum anderen mit dem Wunsch nach Kontrolle zu tun. Sie wollen sich unentbehrlich machen (und helfen so auch, wo gar keine Hilfe gewünscht ist oder sogar kontraproduktiv ist).
- 3. Körperliche Erkrankung
- Co-Abhängige sind Arbeitstiere, übernehmen sich oft dabei, für zwei zu sorgen, und bekommen so stressbedingte oder psychosomatische Krankheiten.
- 4. Selbstbezogenheit
- Subtiler als bei Alkoholikern. Selbstlosigkeit. Der Co-Abhängige sieht sich als Ursache der Gefühle der anderen.
- 5. Kontrolle
- Co-Abhängige glauben fest daran, sie sollten und könnten alles kontrollieren. Versuche, das Unkontrollierbare zu kontrollieren, können zu Depressionen führen.
- 6. Gefühle
- Co-Abhängige sind nicht im Kontakt mit ihren eigenen Gefühlen, weil sie stets damit beschäftigt sind, Erwartungen anderer zu erfüllen. Kommen doch mal eigene Gefühle, kommen sie übermächtig. Sie haben gelernt, dass nur “annehmbare” Gefühle gefühlt werden dürfen, ihre Gefühle sind verzerrt, verdreht, ... Aus der Unterdrückung und Verzerrung von Gefühlen entsteht Groll etc., die sich dann unkontrolliert Luft machen.
- 7. Unehrlichkeit
- Da Co-Abhängige nicht im Kontakt zu ihren Gefühlen stehen, Täuschungsmanöver einsetzen, Erwartungen anderer erfüllen etc., verstricken sie sich dadurch auch in Lügengebäude.
- 8. Egozentrik
- Co-Abhängige fürchten das Verlassenwerden und wollen unbedingt an allem, was geliebten Menschen wichtig ist, beteiligt sein.
- 9. Leichtgläubigkeit
- Co-Abhängige glauben fast alles, was man ihnen sagt, insbesondere wenn es ins Konzept passt.
- 10. Verlust der eigenen inneren Moral
- Selbstzerstörung durch Unehrlichkeit und Vernachlässigung von Körper und Seele. Außerdem dadurch, dass wir durch die Verstrickung in die Co-Abhängigkeit, z.B. zu Alkoholikern, anderen, die wir auch lieben (z.B. Kinder), schaden.
- 11. Angst, Starrheit, Rechthaberei
- Vieles vom obigen löst Ängste aus (Verlassenwerden, Kontrollverlust, ...). Ängste machen starr, Veränderungen werden gescheut. Letzlich werden sie so auch immer rechthaberischer.
Im nachfolgenden Kapitel geht sie darauf ein, wie die Gesellschaft mit Familie, Schule und Kirche die co-abhängigen Strukturen bestens fördern bzgl. blockierten Gefühlen, Perfektionismus, Unehrlichkeit und zwanghaftem Denken. Danach geht sie auf Therapiekonzepte ein: bisherige und ihre Tücken, sowie bessere Methoden.
Doch zurück zum anderen Buch zu Beziehungssucht & Co. Wir waren stehengeblieben bei der Vermischung der drei Süchte untereinander und mit der Co-Abhängigkeit und der sauberen Trennung. Bei alten Definitionen der Co-Abhängigkeit war man durch den “eigentlichen Süchtigen” (Alkoholiker etc.) in einer “Opferrolle”. Die neueren Erkenntnisse heben die eigene Sucht der Co-Abhängigkeit heraus und damit auch die eigene Verantwortung für diese Sucht. Hat man diesen Schritt getan, die eigene Verantwortung für seine Süchte zu übernehmen, fällt es auch leichter, zu erkennen und selbst zu verantworten, dass es womöglich noch mehr Süchte gibt: Sex-, Romanzen- und Beziehungssucht in Partnerschaften, sowie Co-Abhängigkeiten dort, aber auch außerhalb von Partnerschaften, nämlich zu Freunden, Bekannten, Kollegen, ..., aber auch evtl. zu “Zaunpfählen”, wie sie schreibt. Das mag meiner Interpretation nach z.B. die Abhängigkeit von allgemeinen gesellschaftlichen Tendenzen sein (Arbeitsmarktlage), Gegenständen (bei mir bspw. meine Fahrräder), Tieren, Vereinen, ... sein, von deren Zustand man sein eigenes Glück abhängig macht. Hat man einzelne Verhaltensweise sauber den einzelnen Süchten zugeordnet, ist der Weg für eine Behandlung besser geebnet.
Suchtbeziehungen
Wie schon oben erwähnt, sind der Kampfplatz der drei Süchte Beziehungen. Es sind genauer gesagt Pseudo-Beziehungen, die nur so aussehen, als würde Nähe gesucht, wo aber das Gegenteil der Fall ist. Die Autorin listet eine ganze Reihe von Fertigkeiten auf, die geeignet sind, Pseudo-Beziehungen schnell und zuverlässig aufzubauen, viele davon gesellschaftlich durchaus anerkannt und gefördert.
Sie beschreibt die “ideale” Beziehung, wie sie heute noch oft praktiziert wird, mit Begriffen der Transaktionsanalyse, nach der in jedem Menschen drei Ich-Ebenen existieren: Eltern, Kind und Erwachsener. Von diesen werden in “Idealbeziehungen” nur zwei verwendet (Eltern und Kind) und führen zu statischer “Stabilität und Sicherheit”. Nach außen übernimmt bspw. der Mann die Elternrolle und sorgt für Geld, Auto und die große Welt draußen, die Frau hat dann die Kinderrolle. Nach innen übernimmt bspw. die Frau die Elternrolle und umsorgt den Mann. Beide sind so völlig abhängig voneinander.
Weitere Merkmale einer Suchtbeziehung: Unehrlichkeit, Kontrollbedürfnis, keine Freiräume, aneinander kleben, Abschieben von Verantwortungen, Selbstbezogenheit etc. Als Fernbeziehung funktionieren Suchtbeziehungen oft besser (Freiräume sind dann da, Beziehung kann auf Phantasie-Ebene/Sehnsucht besser laufen). Zerbricht eine Suchtbeziehung, entsteht große Leere.
In Suchtbeziehungen lassen sich nach Anne Wilson Schaef vier Pseudo-Beziehungen beobachten. Zwei (stärkere) Maskenbeziehungen (meine Beziehung mit deiner Maske und umgekehrt), wobei die Maske das ist, was nach außen zur Schau gestellt wird: man gibt sich so wie man meint sein zu müssen, damit der andere Zuneigung gibt. Dann die (weniger starken, aber trotzdem wichtigen) Projektionsbeziehungen (meine Projektion auf dich, wie ich dich sehe, und umgekehrt) als Phantasiebeziehungen.
Nähe und gesunde Beziehungen
Diesem Suchtbeziehungen stellt sie gesunde Beziehungen mit richtiger
Nähe zueinander gegenüber. Zunächst aber stellt sie fest:
“Eine wesentliche Grundvoraussetzung für Nähe und
Intimität lautet: Wir müssen uns selbst nahe sein.
Solange wir Nähe von außen erwarten, werden wir sie niemals richtig erleben
und auch nicht fähig sein, sie mit anderen zu teilen.
Wollen wir einem anderen Menschen nahe sein, müssen wir zunächst
einmal wissen, wer wir sind, was wir fühlen, was wir denken,
wo unsere Stärken liegen, was uns wichtig ist und was wir
wollen. Wenn wir all das für uns selber nicht wissen, wie sollen
wir dann einen anderen Menschen daran teilhaben lassen?”
Wichtig bei Nähe und Vertrautheit ist zunächst die Fähigkeit der
“Wahrnehmung” und dies zunächst bei sich selbst.
Und dabei nicht nur Gefühle ausdrücken lernen, wie in einigen psychologischen
Fachgebieten gut gelehrt (eventuell auch nicht vorhandene...),
sondern diese wirklich erstmal spüren und durchleben.
Und alte hochkommende Gefühle auch als Geschen betrachten können.
Danach geht sie zur Nähe zu anderen über und was dieser in der Regel im
Weg steht: Selbstbezogenheit, Unehrlichkeit, Kontrollillusion und
Ablehnung von Verantwortung (zu den Begriffen s.a. Abschnitt Co-Abhängigkeit).
Unter anderem wird darauf eingegangen, warum Menschen sich oft nicht aus
zerstörerischen Beziehungen lösen.
“Die Krankheit einer süchtigen Gesellschaft hält uns
derart in unseren Süchten gefangen, dass eine Genesung das Durchlaufen
unserer persönlichen Wahrheitsebenen hin zu unserer eigenen Heilung
erfordert. Zuerst müssen wir uns eingestehen, dass überhaupt ein Problem
vorliegt; sodann müssen wir die Zeit und die Sicherheit haben,
um uns durch unsere Gefühle durchzuarbeiten; und schließlich müssen
wir uns zu dem Anteil bekennen, mit dem wir ein krankes System
unterstützen. Unterlassen wir den Schritt, unsere Komplizenschaft
mit diesem System zu erkennen, gehen wir das Risiko ein, uns neue
Unterdrücker zu suchen – ...
Um zu genesen, müssen wir die Verantwortung (im Sinne von Besitzerschaft
und nicht Verantwortlichsein und Tadel) für unseren persönlichen
Suchtprozess und unsere Komplizenschaft mit dem uns zerstörenden System
übernehmen. Erst wenn wir respektieren, wie der einzelne Mensch sein
Dasein als Opfer aufarbeitet, werden wir selber nicht mehr länger Opfer
sein.”
Also raus aus der Opferrolle, rein in die Täterrolle und selbst das
Leben in die Hand nehmen!
“Nähe bedeuted anwesend zu sein – in bezug auf die
eigene Person und den Partner –, und dies ist, wenn eine
Sucht vorliegt, unmöglich.
Um die Diskussion zum Thema Nähe zu vervollständigen, müssen wir einen
Blick auf körperliche und sexuelle Intimität werfen. Innerhalb
unserer Suchtgesellschaft sind dies beiden Begriffe oft verwechselt
worden. Nicht jede Intimität muss physischer Art sein,
und nicht jede körperliche Intimität ist gleichbedeutend mit Sexualität.
Beide Formen sind wichtig, aber beide sind in Pseudo-Beziehungen
nicht anzutreffen. ...
Normalerweise erwachsen wahre sexuelle und körperliche Intimität
aus einem Prozess, in dem Nähe wächst, und der muss eine Geschichte
haben. Aus diesem Grund sollten, wenn der erste Schritt
in Beziehungen physischer oder sexueller Natur ist oder in
einer körperlichen oder sexuellen Anziehungskraft besteht,
die roten Warnlampen der Sucht aufleuchten.”
(In anderen Quellen wird übrigens für den Körperkontakt mit
nicht-sexueller Intention der Begriff “Sensualität” verwendet.)
Aus einem anderen ihrer Bücher (Weibliche Wirklichkeit) fasst sie
den Begriff Liebe zusammen:
“Damals beschrieb ich die Liebe als ein unendliches Zeichen
(∞), das zwischen zwei Menschen fortwährend hin- und
herströmt. Liebe ist ein Energiefluss, der von der Herzgegend eines
Partners ausströmt und beim Solarplexus des anderen eintritt.
Sodann durchströmt diese Energie den Körper, wird vom Empfänger –
demjenigen, der geliebt wird – aufgenommen und durch neue Energie
vermehrt, da der Empfänger ebenfalls liebt.
Schließlich wandert die Liebesenergie in die Herzgegend und wird zum
Partner zurückgesendet, und der ganze Prozess wiederholt sich.”
Damit das funktioniert, muss jeder Partner auch Nähe zu sich selbst empfinden,
ebenfalls mit einem Unendlichkeitszeichen dargestellt, insgesamt also drei
(graphisch ungefähr so: 8∞8).
Anschließend listet sie einige Merkmale von “Nähe ist ...” auf.
Analog zu den Suchtbeziehungen definiert sie dann bei gesunden Beziehungen das Vorhandensein von 5 Beziehungen gleichzeitig: 2 Beziehungen der Partner jeweils zu sich selbst, dann diejenigen 2 Beziehungen, die die beiden in ihrer Phantasie mit dem anderen haben. Das ähnelt ein wenig den projektierten Beziehungen in Suchtbeziehungen, unterscheiden sich aber wesentlich davon, weil über sie in gesunden Beziehungen geredet wird, sie bewusst gemacht und so mit der Realität abgeglichen werden. In Suchtbeziehungen wird dagegen ohne Abgleich ins Blaue geschossen... Und schließlich natürlich noch die Beziehung zwischen den zwei Menschen, die in Suchtbeziehungen fehlt.
Zu jeder gesunden Beziehung gehört die Unterstützung des Partners, aber nicht heilend und kontrollierend, sondern respektierend. Sie ist ein offenes System, in dem Informationen fließen und verarbeitet werden. Der Liste von Fertigkeiten, die für den Aufbau einer Pseudo-Beziehung benötigt werden, setzt sie dann eine Liste gegenüber mit Fertigkeiten, mit denen gesunde Beziehungen aufgebaut werden können.
Genesung
Wichtig dafür ist ihrer Meinung nach u.a.:
Die Syndrome als Sucht erkennen und behandeln.
Es sind 3-4 Süchte daran beteiligt (Sex, Romanzen, Beziehungen, evtl.
auch Co-Abhängigkeit, letztere nicht aus der Opferrolle betrachten!)
auf der Grundlage eines gemeinsamen Suchtprozesses.
Die Süchte UND den Suchtprozess behandeln.
Erkennen, dass entgegen eines evtl. Anscheins
alle Süchte eine Flucht vor Nähe sind.
Alle Süchte sind lebensbedrohend, auch diese!
Alle Süchte sind bestens in die Gesellschaft integriert.
Man braucht laufende Unterstützung.
“Genesung ist etwas, das man selbst in Angriff
nehmen muss; aber man muss es nicht alleine tun.”
Sie sind extrem schwierig und schmerzhaft anzugehen.
Oft gibt es Zusammenhänge mit frühem Missbrauch.
Genesung ist ein Prozess und kein Ereignis; Genesung ist möglich; ist ein
Wunder.
Der Prozess ist tückisch.
Anne Wilson Schaef sieht, wie gesehen, viele Beziehungsprobleme als Suchtprobleme und sie hat Erfahrungen in der Suchtbekämpfung. Daher ist naheliegend, dass sie zur Genesung wärmstens ein bei Süchten bewährtes Konzept empfiehlt: Das Zwölf-Schritte-Programm der Anonymen Alkoholiker, dass mittlerweile an andere Problembereiche adaptiert wurde, und auf das sie abschließend noch genauer eingeht. Anderen psychotherapeutischen Ansätzen steht sie eher kritisch gegenüber, da sie vermutet, dass viele Therapeuten selbst co-abhängig sind und damit selbst süchtig und somit zur Genesung nur eingeschränkt beitragen können. Das Buch erschien erstmals vor 15 Jahren. Ob das noch so stimmt, mag jeder selbst entscheiden, wenn er in Kontakt zu anderen Therapieformen kommt. Da ich selbst in Kontakt mit dem Zwölf-Schritte-Programm gekommen bin, führe ich ihren Weg noch etwas näher aus:
Welches Zwölf-Schritte-Programm einem am meisten bei der Genesung helfen kann, hängt wohl von den persönlichen Umständen ab. Womöglich sind mehrere nötig. Dem Thema am nächsten steht natürlich SLAA (The Augustine Fellowship, Sex- and Love Addicts Anonymous), auf die sie sich im Buch mehrfach bezieht. Übersetzt wird es mit Anonyme Sex- und Liebessüchtige, umfasst aber inhaltlich alle drei hier dargestellten Süchte. Außerdem gibt es noch AS (Anonyme Sexaholiker) für dieses Thema. Interessant ist vermutlich auch das nahe verwandte CoDA, das Zwölf-Schritte-Programm der Co-Abhängigen.
In der Buchbesprechung ein wenig unterschlagen habe ich bisher das Thema der Entstehung der Süchte. Hier sieht die Autorin Zusammenhänge mit Familie, Kirche und Gesellschaft, die in ihrer Breite hier wohl den Rahmen sprengen würden. Man möge es nachlesen :-) Was die Rolle der Familie betrifft, bietet es sich an, hier auf einen Aspekt einzugehen, weil es hierzu ein passendes Zwölf-Schritte-Programm gibt. Ursache von vielen Süchten ist vermutlich eine dysfunktionale Familie. Wie auch bei der Co-Abhängigkeit entwickelte sich dies zunächst auch um den Alkoholiker herum, entsprechent heißt das Programm EKS (Erwachsene Kinder Suchtkranker, manchmal auch EKA oder ACA). Viele in Alkoholikerfamilien durch die Kinder erlernten Verhaltensmuster führen dazu, dass diese später selbst Suchtprobleme bekommen, sei es auch als Alkoholiker oder auch mit anderen Süchten wie Co-Abhängigkeit. Mit der Zeit erkannte man, dass ähnliche Strukturen auch in anderen Familien ohne Alkoholismus bestehen und dass auch dort Kinder ähnliche Probleme bekommen. Eltern sind in solchen dysfunktionalen Familien nicht in dem Maße für die Kinder da, wie es eigentlich nötig wäre, vor allem auf der Gefühlsebene. Warum, ob wegen Alkohol, Arbeitssucht, Co-Abhängigkeit oder anderen Problemen, ist letztlich nebensächlich. Daher kann auch dieses Programm hilfreich sein. Apropos Familie: Missbrauchsopfer finden ihre Heimat vielleicht auch noch bei ISA (Incest Survivors Anonymous).
Als allgemeineres Programm kann auch EA (Emotions Anonymous) hilfreich sein. Wer zudem von weiteren Süchten betroffen ist, sollte entsprechende Fachprogramme besuchen. Es gibt derzeit welche für Alkohol (AA), Arbeitssucht (AAS), Messies (AM), Raucher (AR oder NiCA), Borderliner (BA), Schulden- und Kaufsüchtige (DA), Spielsüchtige (GA), Drogen- und Medikamentenabhängige (NA), Essgestörte (OA).
Andere Gesellschaft?
Anne Wilson Schaef betont die gesellschaftlichen Zusammenhänge
beim Entstehen des Suchtprozesses und der einzelnen Süchte sehr stark.
Bräuchten wir also eine andere Gesellschaft? Vermutlich ja.
Vielleicht sind wir auf dem Weg dorthin, denn so langsam hat die
Psychotherapie das richtige Arbeitswerkzeug für eine Genesung der
Einzelnen und damit irgendwann auch der ganzen Gesellschaft.
Dass es nicht immer so war mit unserer Gesellschaft ist Thema eines
anderen Buches:
Jean Liedloff: Auf der Suche nach dem verlorenen Glück
Klappentext:
“Im Dschungel Venezuelas trifft eine junge Amerikanerin
auf die Yequana-Indianer. Fasziniert vom offenkundigen Glück dieser
‘Wilden’, bleibt sie insgesamt zweieinhalb Jahre
bei dem Stamm und versucht, die Ursachen dieses glücklichen und
harmonischen Zusammenlebens herauszufinden. Sie entdeckt dessen Wurzeln
im Umgang dieser Menschen mit ihren Kindern und zeigt,
wie dort noch ein bei uns längst verschüttetes Wissen um die
ursprünglichen Bedürfnisse von Kleinkindern existiert,
das wir erst neu zu entdecken haben.”
Sie stellt die These auf, auch mit Parallelen aus der nah verwandten
Tierwelt, dass früher das Aufwachsen der Kinder bei allen Menschen so
war, wie bei diesem Stamm noch vorgefunden,
dass es so die von der Natur gewollte Art war.
Nun können wir schlecht in den Urwald zurück und für uns selbst ist es
eh zu spät, um nochmal als Baby anders aufzuwachsen.
Aber auch uns kann geholfen werden:
Das innere Kind
Denn auch dafür hat die Psycho-Therapie Lösungen gefunden:
Man beschäftigt sich nachträglich mit seiner Kindheit: mit seinem
inneren Kind, ganz nach dem Motto:
“Es ist nie zu spät für eine glückliche Kindheit”.
Klappentext des Theoriebuches:
“Viele von uns verleugnen ihr inneres Kind –
das traurige, lachende, verrückte und oft so weise Kind,
das in jedem steckt, ob Mann oder Frau. Aber erst wenn wir es hören und uns
mit ihm aussöhnen, können wir uns auch selbst lieben. Wer lernt, die
kreative Kraft des inneren Kindes und das rationale Denken des
Erwachsenen in Form einer kreativen Partnerschaft zu verknüpfen,
der heilt nach und nach seine Angst, seinen Schmerz und sein
Alleinsein. So kann jeder Erwachsene wieder mit jenem Teil von sich
Verbindung aufnehmen, der Gefühle und Erfahrungen in sein rational
ausgerichtetes Leben zu integrieren weiß.”
Diese beiden Bücher behandeln also eine weitere Möglichkeit, zu sich selbst zu finden, indem man die Wurzeln der Probleme wieder entdeckt und mit ihnen Frieden schließt und sich den Gefühlen öffnet. Es beschreibt zunächst die Mechanismen, die zu den heutigen Verhaltensmustern als Erwachsener geführt haben, und wie man diese in der Arbeit mit dem inneren Kind korrigieren kann. Das Arbeitsbuch enthält praktische Übungen für die Arbeit.
Auch diese Bücher stehen dem Zwölf-Schritte-Programm nahe. Co-Abhängigkeit und dysfunktionale Familien nehmen ein Kapitel ein und die zwölf Schritte wurden in einer mir als nichtreligiösen Menschen sehr angenehmen Art auf das Thema inneres Kind adaptiert. Auch dieses Buch fasst verschiedenste psychologische Störungen unter einem Dach zusammen. Die Bücher von Liedloff und Schaef werden übrigens bei der empfohlenen Literatur erwähnt, insofern passen alle erwähnten Bücher gut zusammen.
Professionelle Hilfe
Wer alleine und mit Selbsthilfegruppen nicht weiter kommt, kann auch preofessionelle Hilfe bekommen. In Deutschland arbeiten vier psychosomatische Kliniken nach dem “Bad Herrenalber Modell”, das ein sehr gruppentherapeutisch orientiertes Therapiemodell ist und neben dem Zwölf-Schritte-Programm auch noch Bonding, div. Entspannungstechniken, Körper-Gestalt-Therapie etc. umfasst. Aber auch immer mehr Psychotherapeuten etc. kennen das Herrenalber Modell und integrieren es in ihre Arbeit. Zumindestens die Herrenalber Klinik hat Listen mit empfohlenen Therapeuten.
Literatur:
- Die Flucht vor der Nähe
- Warum Liebe, die süchtig macht, keine Liebe ist
- Anne Wilson Schaef
- Deutscher Taschenbuchverlag - dtv
- ISBN 3-423-35054-7
- 1989 (USA), 1990 (D), 14. Auflage März 2005
- € 7,50
- Co-Abhängigkeit
- Die Sucht hinter der Sucht
- Anne Wilson Schaef
- Wilhelm Heyne Verlag
- ISBN-13 978-3-453-09539-7
- 1986 (USA), 1986 (D), 16. Auflage 2006
- € 7,95
- Auf der Suche nach dem verlorenen Glück
- Gegen die Zerstörung unserer Glücksfähigkeit in der frühen Kindheit
- Jean Liedloff
- Verlag C. H. Beck
- mein gebraucht gekauftes Exemplar hat die Daten:
- ISBN 3-406-45724-X
- 1977/1986 (USA), 1980 (D), ?. Auflage 2001
- € 8,90
- Aussöhnung mit dem inneren Kind
- Erika J. Chopich, Margaret Paul
- Ullstein Buchverlage
- ISBN-13 978-3-548-35731-7
- 1990 (USA), 1993 (D), 21. Auflage 2006
- € 8,95
- Das Arbeitsbuch zur Aussöhnung mit dem inneren Kind
- Erika J. Chopich, Margaret Paul
- Ullstein Buchverlage
- ISBN-13 978-3-548-36702-6
- 1993 (USA), 2005 (D), 3. Auflage 2005
- € 9,95
Weblinks:
- Wikipedia zum Bad Herrenalber Modell mit weiterführenden Links zu den therapeutischen Hintergründen und den 4 Kliniken
- Portal zum Zwölf-Schritte-Programm mit Forum und Verzeichnis der Adressen aller Programme
- Deer Tribe Metis Medicine Society (DTMMS): In der Klinik Bad Herrenalb werden auch indianische Elemente (Medizinrad, Wiegen) integriert. Das auch nachzuvollziehen habe ich auch auf der ToDo-Liste, erscheint hier evtl. eines Tages als eigenes Kapitel...
2006 zusammengestellt von Heiko Jacobs