Der Bauer und die Stute
Einst lebte auf einem grossen Landgut ein Bauer. Er widmete sich ganz seiner Arbeit und brachte die besten Ernten weit und breit hervor, denn er war ein sehr tüchtiger Bauer. Aber er war nicht glücklich, denn er war nie mit sich zufrieden: Bei jeder guten Ernte wünschte er sich eine noch bessere Ernte, eine einzige faule Kartoffel genügte, um alle Freude über die Ernte zunichte zu machen.
Neben dem Landgut war eine Weide mit einer Pferdeherde, die der Bauer allerdings nie beachtete - zu sehr war er mit seiner Arbeit beschäftigt. Bis ihm eines Tages beim vorbeigehen eine besonders lebhafte Stute ins Auge fiel, ein Schimmel, weiss wie der Schnee, der munter mit den anderen Pferden herumtollte. Dem Bauern, der sich nie für Pferde interessiert hatte, gefiel diese Stute sehr und er überlegte sich, ob er nicht glücklicher werden könne, wenn er diese Stute einfangen und auf ihr das Reiten lernen würde - seine Arbeit allein schien ja nicht zu genügen. Also versuchte er, die Stute zu fangen. Doch das erwies sich als schwieriger, als er gedacht hätte: Jedem Versuch, an sie heranzukommen, wich die Stute aus und wieherte dabei, als ob sie ihn auslachen würde. Sie lief nicht weg, liess ihn aber auch nicht an sich heran. Bald merkte der Bauer, dass die Stute nur mit ihm spielte, und er erkannte, dass diese Stute ihm keine Freude bereiten würde. So widmete er sich wieder ganz seiner Arbeit. Doch fortan ging er öfter zur weide und beobachtete die Pferde.
Bald fiel ihm eine andere Stute auf, die völlig anders war als der Schimmel. Es war ein Rappe, nicht besonders auffällig. Oft stand sie etwas abseits von der Herde, an der Tollerei beteiligte sie sich selten. Dem Bauern fiel sie nur zufällig ins Auge, doch nachdem sie ihm einmal aufgefallen war, beobachtete er sie genauer und konnte nachher seinen Blick nicht mehr von ihr lösen. Sie war nicht lebhaft, nicht spielerisch, nicht strahlend, aber jede ihrer Bewegungen hatte eine ganz besondere Eleganz, und ihr Fell hatte einen Glanz, der sie für den Bauern zum schönsten Tier der Herde machte. Sie strahlte einen ganz besonderen Stolz aus; sie hatte es nicht nötig, aufzufallen. Nein - diese Stute würde nicht mit ihm spielen; diese Stute war die richtige für ihn.
Der Bauer war sehr unsicher. Schliesslich wusste er nichts von Pferden und hatte einen Rückschlag hinter sich. Doch schliesslich nahm er all seinen Mut zusammen und näherte sich der Stute. Sie wich nicht aus, sie lief nicht weg, doch sie liess den Bauern auch nicht an sich heran. Sie wollte ihre Freiheit, sie wollte nicht von ihm geritten werden. Wie sie so vor ihm stand, ihn stolz abwehrend, sah er zum ersten Mal ihre wahre Schönheit, ihren wahren Wert. sie war das schönste und kostbarste, was er je gesehen hat, schöner als alles, wovon er je geträumt hatte.
"Diese Stute ist mein - ich muss sie gewinnen!" - Nun hatte der Bauer ein Ziel, eine Berufung. Seine Arbeit hatte für ihn plötzlich keine Bedeutung mehr. Er liess sein Landgut nicht verfallen: er bestellte seine Äcker weiter und hatte keine Probleme, aus den Erträgen in bescheidenem Wohlstand weiterzuleben. Aber den Grossteil seiner Zeit, seine ganze Energie, widmete er seiner grossen Aufgabe, seiner Stute. Er ging es nicht sehr geschickt an - wie sollte er auch? Und seine Bemühungen führten zunächst auch zu keinen Erfolgen. Aber er vertraute darauf, sie mit wachsender Erfahrung, mit fortschreitender Zeit, doch noch zu gewinnen. Und er hatte viel Zeit: Wer würde schon ihre Schönheit erkennen und sie ihm wegnehmen?
Doch eines Tages kam ein Reiter des Weges, dessen Pferd lahmte. Er quartierte sich auf dem Landgut ein, um sein Pferd gesund zu pflegen. Ab und zu besuchte er auch die Weide; und ein Pferd dort gefiel ihm besonders: Eben die Stute, um die der Bauer so sehr kämpfte. Bald fragte er sich, ob er sein altes Pferd wirklich behalten soll. "Warum wechsle ich nicht einfach das Pferd? Diese Stute hier ist sowieso viel besser als mein alter Klepper! Ich kann ja mal sehen, wie sie sich reitet." So ging er zu der Stute, und diese, stolz wie sie war, liess ihn herankommen, liess ihn aufsitzen, liess ihn reiten. Wie eine Einheit ritten die beiden über die Felder. Wie sie so galoppierte, kam die Schönheit der Stute auf ganz andere Weise zum Vorschein. Dem Bauern brach es das Herz, doch er liess sie gewähren: die Stute schien ihren Meister gefunden zu haben. Und der Reiter hatte sich nun fest für die Stute entschieden. Sie ritten und ritten und ritten.
Unterdessen schaute der Bauer sich andere Pferde an, besuchte andere Weiden. Er fand auch das eine oder andere Pferd, das ihm gefiel; aber keines der Pferde reichte auch nur im entferntesten an seine Stute heran. So näherte er sich auch keinem dieser Pferde, versuchte erst gar nicht, zu reiten. Selbst wenn es ihn reiten liesse, würde er doch enttäuscht werden. So suchte er weiter.
Der Gast blieb noch, um zumindest sein altes Pferd gesund zu pflegen. Und als es gesünder wurde, kamen ihm Zweifel an seiner Entscheidung: Hatte er nicht schöne Zeiten mit seinem alten Pferd verlebt? Ist es ihm nicht immer treu zur Seite gestanden und hat ihm durch viele Gefahren geholfen? Was wusste er schon von der Stute? Ein paar Landritte, das war alles. Er ritt weiter mit der Stute über die Felder, die Einheit blieb, aber die Zweifel stiegen. Einmal verstauchte er sich den Fuss und konnte eine Zeitlang nicht reiten. Da merkte er, dass er doch sehr, sehr gerne wieder auf seinem alten, treuen Pferd reiten würde, lieber als auf der Stute. So entschied er sich doch für sein altes Pferd, und als beide genesen waren, verliess er das Landgut so, wie er gekommen war.
In den folgenden Monaten war die Stute noch weniger lebhaft als zuvor. Sie frass weniger und lag oft den ganzen Tag nur am Boden. Auch der Reiter vermisste die Stute und kam sehr oft zu Besuch. Jedesmal lebte die Stute wieder auf, und in alter Einheit ritten sie über die Felder. Der Bauer hatte oft Angst, dass der Reiter die Stute mitnehmen würde; doch er verliess das Landgut immer wieder ohne die Stute.
Der Bauer aber blühte mit dem Gehen des Reiters wieder auf: Er hatte sein Ziel, seine Hoffnung wiedergefunden. Ja, das Ziel war noch grösser geworden: Er hatte die Stute in all ihrer Schönheit galoppieren sehen. So wie der Reiter wollte er auch einmal mit seiner Stute reiten.
Manchmal kamen dem Bauern Zweifel, ob er sein Ziel jemals erreichen würde. So ging er auch weiterhin auf andere Weiden und sah sich andere Pferde an. Doch kein Pferd entsprach seinen Vorstellungen. Was er wollte, war eben nicht irgendein Pferd, sondern seine Stute. Und was er vor allem brauchte, war nicht ein Pferd zum Reiten, sondern ein Ziel, um das es sich zu kämpfen lohnt.
Einige Male probierte der Bauer doch das Reiten auf anderen Pferden und eignete sich so eine gewisse Fertigkeit an; und manchmal kam ein Gast, der auf der Stute reiten konnte. Doch nie durfte der Bauer auf seiner Stute reiten. Ab und zu verlor der Bauer auch sein grosses Ziel aus den Augen und schenkte seinem Landgut wieder mehr Aufmerksamkeit. Doch er merkte immer schnell, dass es so nicht glücklich werden kann.
Es waren schon viele Jahre vergangen, da wurde die Stute schwer krank. der Bauer vergass ganz seine Arbeit, vergass seinen Hunger und blieb Tag und Nacht bei ihr. Die Krankheit wurde immer schlimmer - die Stute war schon alt und nicht mehr robust. Da geschah es: Er sah sie an, sie sah ihn an, und er wusste: er hatte gewonnen. Endlich hatte er sein Ziel erreicht! Er war glücklich.
Am nächsten Morgen war die Stute tot. Der Bauer, aus dem weinen nicht herauskommend, begrub sie. Er hatte sein Ziel erreicht, und gleichzeitig war sein Ziel verschwunden. Was sollte er nun noch tun? Sich ein neues Ziel suchen? Es konnte nicht die Grösse des alten Zieles erreichen. Der Bauer legte sich hin, dachte an seine Stute - und starb.
Jörg Eisfeld · Gepostet am 15. März 1997