Immer ontopic: Liebe
Was war das? Ich schrecke auf, als ich ein Plätschern im Wasser des Sees vernehme. Hat jemand einen Stein hineingeworfen? Oder war es nur ein übermütiger Fisch? Ich reibe mir die Augen und schaue mich um, aber es ist niemand weit und breit zu sehen. Ich muß unter dem Baum in der warmen Frühlingssonne eingeschlafen sein. Mit dem Rücken an den Stamm gelehnt betrachte ich die sich immer weiter ausbreitenden Kreise auf der Oberfläche des Sees.
Wie spät mag es sein? Ich weiß nicht, wie lange ich geschlafen haben mag, aber ich genieße es, von der Natur geweckt zu werden. Auf meinem Körper haben sich während des Schlummers einige Blütenblätter angesammelt. Und wieder macht es "Platsch" im Wasser! Doch als ich hinschaue, sehe ich nur noch ein paar Wellen, die langsam in meine Richtung zum Ufer laufen.
Um den Duft der Blüten aufzunehmen und dem Gesang der Vögel zu lauschen, schließe ich wieder die Augen und tauche hinab in die Welt, die alleine mir gehört. Ein zarter Windhauch berührt sanft mein Gesicht, ich spüre den Atem des Sees. Ein leises Seufzen ertönt, und eine Melodie dringt an mein Ohr, die so alt ist, daß sie mir sofort vertraut vorkommt, und doch so fremd und neu, daß sie meine Sinne fesselt.
Eine helle klare Stimme singt leise ein trauriges Lied in fremden Worten, die ich nicht verstehen kann. Dennoch spüre ich deutlich, daß sie von Sehnsucht singt, von einer ungestillten Sehnsucht, die die Kraft besitzt, Herzen zu zerreißen. Es ist, als würden die Vögel schweigen, um ebenfalls diesem Gesang zu lauschen.
Ist diese Melodie in mir? Ich weiß, daß sie in dem Moment verstummen wird, wenn ich die Augen öffnen werde. Dann spüre ich, wie es mir kalt von der Hand über den Arm bis zur Schulter läuft, doch ich habe keine Angst, daher lasse ich die Augen zu. Die Zeit läßt mich los, ich werde nur noch von dieser Stimme getragen. Die Melodie schien schon immer dagewesen zu sein, nur kann ich sie jetzt erst vernehmen.
Ich tauche ein in dieses Lied, suche den Grund, aber finde nur eine endlose Tiefe. Daher gleite ich empor, um mich vom Rhythmus seiner Wellen wiegen zu lassen. Die Töne perlen wie Wassertropfen von meiner Haut ab, sie funkeln und glitzern im Sonnenlicht. Sie bilden einen Reigen, der niemals enden soll.
Aus dem Rauschen der Wellen bilden sich Harmonien, die sich mit der Stimme zu einem Werk verbinden, welches auf Erden seinesgleichen sucht. Aus der Ferne erklingen weitere Stimmen, ein anschwellender Chor, der die Melodie mit Kopien ihrer selbst verwebt. Doch all dieses geschieht in einer leise klagenden Weise, als würden die Stimmen fürchten, mit ihrem Gesang jemanden zu wecken.
Und dann auf einmal taucht die Melodie in mich ein, sie durchdringt mich auf der Suche nach meinem Herzen. Von allen Seiten strömen die Töne wie frisches Blut durch meine Adern. Als sie das Ziel ihrer Suche erreichen, erfaßt mich etwas so tief, daß ich zuerst wie gelähmt erstarre. Doch dann breitet sich eine wohlige Wärme von meinem Herzen aus, erfaßt meinen ganzen Körper, ja, scheint sogar hinauszuströmen in die Natur. Auf einmal stimmen sogar die Vögel wieder ein, und selbst die Bäume scheinen sich im Takt zu wiegen.
Ein Tropfen fällt auf meine Wange. Erschrocken öffne ich die Augen und blinzele in die Sonne. Augenblicklich versiegt die Musik. Als ich aus meiner Traumwelt zurückgekehrt bin, schaue ich auf den See, auf dem sich immer noch Wellen ausbreiten. Auf meinem Arm sind feuchte Spuren und der Tropfen auf meiner Wange rinnt bis an den Winkel meiner Lippen, wo ich mit der Zunge seinen salzigen Geschmack wahrnehmen kann...
Ingo Leschnewsky · Gepostet am 29. März 1997